Gerade erst verklingen die letzten Akkorde von Dobryi wetschir tobi, pane hospodarju, als tosender Applaus erklingt. Zaghaft lächeln die acht Kinder auf der Bühne, dann nehmen sie sich an die Hand und verbeugen sich gemeinsam. Die Jungen und Mädchen sind zwischen elf und fünfzehn Jahre alt, einige von ihnen in festlicher Tracht. Sie besuchen die Brückenklasse einer Realschule im Münchner Norden.

Einer von ihnen ist Adam. Adam ist 14 Jahre alt, seit Mai wohnt er gemeinsam mit seiner Mutter und zwei jüngeren Schwestern in einer der Unterkünfte für ukrainische Flüchtlinge. Jeden Tag geht er in die Brückenklasse, gemeinsam mit zehn anderen ukrainischen Kindern. Die Idee für den gemeinsamen Auftritt beim Weihnachtskonzert der Schule hat allen gleich gut gefallen. Viel Platz für die eigenen Traditionen gibt es nicht mehr, da tröstet es, gemeinsame Bräuche zu teilen. Gemeinsam ein bekanntes Lied zu singen. Etwas komisch hat es sich zu Beginn schon angefühlt, erzählt Adam später, mit den letzten Sätzen des Lieds habe er sich dann aber plötzlich ganz feierlich gefühlt. Im Publikum erkennt er einige der Kinder aus der Schule, mit denen er sich in den letzten Monaten angefreundet hat, sondern auch Nadia und Hanna.

Seit September sind Nadia Khan und Hanna Artomova in den Schulen im Münchner Norden unterwegs, besuchen die Brückenklassen, sprechen mit den Eltern bei Elternabenden, stehen mit Lehrer*innen in Kontakt. „Willkommen im Beruf“ heißt das Jugendhilfe- Projekt der Diakonie Hasenbergl. Im Mittelpunkt stehen junge ukrainische Menschen zwischen 11 und 25 Jahren. Sie treffen hier auf ein ganz neues Schulsystem, auf neue Möglichkeiten, aber auch andere Verpflichtungen. „Eine der drängenden Fragen für viele Flüchtige ist die Frage nach der Anerkennung der Qualifikationen und Abschlüsse. Welche Perspektiven gibt es für sie?“. Nadia Khan ist Bildungswissenschaftlerin, kennt sich im deutschen Schulsystem sehr gut aus. Die 28 Jährige Münchnerin engagiert sich seit Jahren für verschiedene soziale Projekte. Gemeinsam mit Hanna Artomova, Ukrainerin, steht sie den jungen Menschen, den Eltern und Familien, aber auch Schulen, Unternehmen und Verbänden zur Verfügung. „Viele der Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind, hatten ja eigentlich ganz andere Zukunftspläne, viele Schulabgänger*innen wollten studieren“, ergänzt Hanna Artomova.

Für eine – ungewisse – Zukunft planen? Zu viele Fragen sind für viele noch offen. „Zu uns kommen junge Menschen, die heute nicht wissen, ob sie hier bleiben möchten, die für ihre Zukunft in der Ukraine aber viele Pläne hatten. Dazu kommt die Sorge um die Menschen, die sie zurückgelassen haben, Familie und Freunde, die in der Ukraine geblieben sind. Nicht alle können sich auf eine mittelfristige Zukunft in München schon einlassen“, erklärt Nadia Khan. Sie gehen zur Schule, weil die Schulpflicht es ihnen vorschreibt. Sich auf ein Leben in Deutschland ganz einlassen, wollen oder können sie noch nicht. „Diese Ungewissheit ist eine große Belastung. Während andere geflüchteten Gruppen wissen, dass sie nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, wissen viele unserer Klient*innen  nicht, wie es weitergehen soll. Sie hoffen, dass bald Frieden herrscht und sie wieder an ihr altes Leben anknüpfen. Andere dagegen wollen ihr Leben hier neu beginnen und versuchen, sich schnell zu integrieren“. 

Gemeinsam mit seiner Mutter hatte sich Adam bereits im Oktober an die beiden Fachkräfte gewandt, hat sich über das deutsche Schulsystem informieren lassen. Für ihn ist schon heute klar: Ab März möchte er zusammen mit zwei anderen Jugendlichen in die Regelklasse übertreten und versuchen, die neunte Klasse zu machen, bevor die Brückenklassen im Sommer auslaufen.  „Die Brückenklassen sind durchgemischt, hier kommen Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Altersklassen zusammen, die unterschiedliche Interessen haben. Gemeinsam lernen sie deutsch, auf wieviel Integration sie sich einlassen, hängt vom Engagement der Lehrer*innen und Unterstützer*innen ab und wie hier auch, vom Bildungsniveau der Familie“.

Im Mittelpunkt vieler Beratungsgespräche stehen das bayerische Schulsystem und die weit verzweigten Ausbildungsmöglichkeiten, verschiedene Schularten. „Wir unterstützen auch beim Thema Bewerbung, bereiten auf Bewerbungsgespräche vor und vermitteln aber auch Praktika. Eine große Rolle spielt auch die Vernetzung von Verbänden und Unternehmen“, erzählt Nadia Khan. „Wir haben ein großes Netzwerk, in der Diakonie Hasenbergl, aber auch nach außen. Wir selbst sind in verschiedene Interessensgruppen eingebunden, arbeiten in verschiedenen Projekten und Einrichtungen mit und kennen viele Kolleg*innen anderer Migrationsberatungen. Über soziale Medien erreichen wir viele ukrainische Familien in Deutschland. Das ist ein bisschen wie ein Schnellballsystem“, berichtet Hanna Artomova. Die Ukrainerin ist Lehrerin und arbeitet nebenbei noch in einer ukrainischen Mutter-Kind-Gruppe im Südwesten von München. „

Bis Mitte September waren laut einer Mitteilung der Landeshauptstadt München rund 15.500 Menschen aus der Ukraine als bleibende Flüchtlinge registriert. Aktuell kommen bis zu 60 Menschen jeden Tag neu in der Landeshauptstadt an. Und die Zahl von Menschen aus der Ukraine, die in München Zuflucht suchen, steigt wieder an.

Auch wenn im Mittelpunkt die Begleitung auf dem Weg in Schule, Ausbildung oder Arbeitsmarkt steht, unterstützen Nadia Khan und Hanna Artomova die Klient*innen bei vielen weiteren Fragen und Angelegenheiten. „Kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe möchten wir gerne ermöglichen. Wir wollen den jungen Menschen München zeigen, mit wem sie hier zusammenleben. Die soziale Integration ist unheimlich wichtig. Die Brückenklassen sind gut für einen Einstieg in das Zusammenleben und das Schulsystem. Problematisch ist aber, dass die Kinder und Jugendlichen hier wieder nur unter sich bleiben. Wir möchten gerne einladen, mit uns in die Stadt zu gehen, in Museum und Theater, ein bisschen München zu schnuppern“.